Viktoria Weber

Laura Stöckler

Michelle Seidl

Ferdinand Trübsbach

David Lynch - Mullholland Drive (2001)

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David Lynch, Mulholland Drive, 2001, © Universal Pictures

Viktoria Weber

Es ist Mitte Januar 2025, ich scrolle auf meinem Instagram-Feed, springe von einer Story zur nächsten und befinde mich auf einmal in einer Endlosschleife von David Lynch-Nachrufen. Darunter finden sich nicht nur designierte Filmliebhaber:innen, sondern immer wieder auch sogenannte Laien, die mit einem Häferl Kaffee in der einen und einem zuckerübergossenen Donut in der anderen Hand die Kultserie Twin Peaks genießen. Doch was macht den Hype aus?

Ein Herzstück von Lynchs Oeuvre ist der 2002 erschienene Film Mulholland Drive: Die Scheinwerfer eines einzigen Autos beleuchten die verschlungene Straße über dem Lichtermeer Los Angeles. Auf der Rückbank sitzt eine bildschöne Brünette, die einem Mordversuch nur knapp entgeht – ein todbringender Autounfall rettet ihr das Leben. Obwohl diese physisch unverletzt bleibt, verliert sie jegliche Erinnerung an ein Leben vor dem Unglück und nennt sich von da an Rita. Die mysteriöse Schönheit – ob Opfer oder Täterin bleibt erstmal unklar – schleicht sich in die Hollywood-Residenz einer Schauspiel-Diva, wo sie sich mit deren lebensfrohen, hilfsbereiten Nichte Betty anfreundet. Die naive, blonde Betty, die in Los Angeles für ihren großen Traum als Schauspielerin vorspricht und dabei auch manchem Regisseur den Mund abschleckt, hilft ihrer neuen  Freundin, ihrer  mysteriösen Vergangenheit auf den Grund zu gehen. Die Blonde und die Brünette fungieren dabei als klassische, wunderschöne Stereotype, die Lynch gezielt einsetzt. 

Hierbei handelt es sich nur um einen von zahlreichen Handlungssträngen, die durch Motive und Orte erstmal nur lose verknüpft scheinen – doch Lynch überlässt nichts dem Zufall. Da gibt es zum Beispiel noch den arroganten Jungregisseur Adam, dessen Frau ihn im eigenen Haus betrügt und kurzerhand vor die Tür setzt; und einen klassischen Cowboy, der Adams Geldprobleme lösen möchte. Dabei bleibt Lynch seinem Stil treu: mit fließenden Übergängen führt er die Zuschauer:innen durch seine surreale Filmwelt. Die Neben- und Haupthandlungen alternieren, während erst die Stimmungen eines klassischen Film Noirs, dann einer Lovestory, dann eines Mystikthrillers vermittelt werden – Lynch liebt das Spiel mit Genreverweisen und tradierten Hollywood-Phänotypen.

Wer die Werke des Regisseurs bereits kennt, wartet dann nur noch auf eine sexuell aufgeladene Szene und wird nicht enttäuscht, als Rita und Betty (oder deren Gegenstück Diane?) sich zu einer leidenschaftlichen Beziehung verführen lassen. Lynch reproduziert hier einen klassischen male gaze auf eine lesbische Liebesbeziehung – ein Produkt der Zeit, aber deswegen kein bisschen weniger problematisch. Lynchs Frauenbild bedient sich dabei klassischer Gegensätze à la Heilige oder Hure und obwohl diesen Ansichten eine fast unschuldige Faszination mit der Idee Frau mitschwingt, berauben sie die Protagonistinnen ihrer rein menschlichen Handlungsdimension. Selbstverständlich lässt sich mutmaßen, dass Lynch in seinen Werken nur die gesellschaftlichen Vorstellungen von und an Frauen reflektiert, dennoch scheinen die Szenen dafür sehr treffend in das Weltbild eines Konservativen [1] zu passen. Im Filmverlauf alternieren die klassischen Gegensätze auch auf der Handlungsebene der individuellen Protagonistinnen, wodurch die Charaktere nicht an Komplexität verlieren.

Am Ende der 152 Minuten stellt die Zuschauerin sich mehr Fragen als davor und auch der sagenumwobene, blaue Schlüssel bringt nicht die alles aufklärende Antwort. Die Idee des Kinos als Traumfabrik erlangt bei Lynch eine ganz neue Dimension, während sich der Hollywood-Wahn am Mulholland Drive Schritt für Schritt zum verführerischen Albtraum wandelt. Die Reise ins Unbewusste strotzt dabei vor Genreverweisen, altbekannten Phänotypen und Filmgeschichtsreferenzen, die wirklich alle Augen an die Leinwand fesseln.  

Quellen:

[1] Lynchs politische Einstellung schwankte stets, dennoch wird der Regisseur oftmals als konservativ beschrieben. Beispielhaft hierfür ist seine aktive Befürwortung des und Nähe zum republikanischen US-Präsidenten Ronald Reagan. Siehe hierzu: 

https://www.washingtonpost.com/opinions/2025/01/18/david-lynch-conservative/

Laura Stöckler

David Lynchs Mulholland Drive ist längst Teil des filmischen Kanons und hat sich seit Jahren einen festen Platz in der Kulturlandschaft gesichert. Besonders nach Lynchs Tod im Januar dieses Jahres erlebten seine Werke und seine Person eine regelrechte Hypervisibilität – befeuert durch Nachrufe in den sozialen Medien und den Feuilletons. In diesem Kontext habe ich nach mehreren Jahren Mulholland Drive erneut gesehen.

 

Trotz der allgemeinen Faszination für die Eigenartigkeit und Einzigartigkeit seiner Filme sind viele Diskussionen, sowohl in Gesprächen in meinem Umfeld als auch in Artikeln und Essays, von dem Wunsch nach Erklärungen, Analysen und Deutungen geprägt. Webseiten wie „mulholland-drive.net“, ein umfassendes Wiki zu diesem Film, unterstreichen diesen analytischen Ansatz. Das überrascht kaum, denn Mulholland Drive ist von einer tiefen Rätselhaftigkeit durchzogen. Dass die Haupterzählung eine Traumwelt oder Scheinrealität ist, gilt als weitverbreiteter Konsens. Resultat ist ein Detektivspiel, das die Zuschauer:innen dazu verleitet, Traum und Realität akribisch voneinander zu trennen. Diese Tendenz wurde durch Lynch selbst noch befeuert, als er mit der DVD-Veröffentlichung zehn "Clues" präsentierte, die bei der Entschlüsselung des Films helfen sollten [1].

 

Auch der Film selbst lädt zu dieser Spurensuche ein: Die skurrilen und scheinbar losen Erzählfragmente, die unerklärliche innere Logik, die psychosexuell aufgeladenen Beziehungen, wiederkehrende, aber obskure Symbolik, entfremdende schauspielerische Performances und eindringliche Motive fordern uns regelrecht heraus, den Film so zu deuten, dass sich alle Puzzleteile zu einem vollständigen Bild zusammenfügen. Es entsteht die Dominanz einer analytischen Lesart, die alles auf verborgene Bedeutungen reduziert und den Film einer Art psychoanalytischen Sezierung unterwirft. In dieser Denkweise steht das Gesehene nie für sich selbst, sondern wird immer als Symbol für etwas Tieferliegendes verstanden. Das Publikum wird zur Psychoanalytiker:in; die ‘eigentliche’ Wahrheit des Films soll entschlüsselt werden. Am Ende dieser Suche stehen die Intentionen des Regisseurs selbst.

 

Doch dieser Fokus auf kognitive Entschlüsselung überdeckt womöglich andere Möglichkeiten der Rezeption. Als ich die fünfte detaillierte Erklärung des Films lese, frage ich mich: Engt diese detektivische Betrachtungsweise unsere Wahrnehmung nicht ein? Geht durch die Fixierung auf Deutung nicht gerade das verloren, was Mulholland Drive ausmacht – seine Vieldeutigkeit, seine Weigerung, sich einer klaren Logik zu unterwerfen, seine subtile affektive Wirkung?

 

Warum also sprechen wir so selten über die formalen Aspekte des Films – abseits der Spurensuche nach Lynchs Intention? Über die Stille zwischen den Dialogen, die Pausen zwischen den Blicken, die das Geschehen in ein Vakuum tauchen? Über die Leere, die sich beim Zuschauen überträgt – einengend, verunsichernd, isolierend? Oder über die langsamen, schleichenden Kamerabewegungen, die elliptische Montage, die Farbgestaltung? Diese Techniken sind ebenso zentral für die Atmosphäre und Wirkung des Films wie seine narrative Struktur.

 

Die zahlreichen Deutungen und Analysen der letzten Jahre haben zweifellos zu einem umfassenden Korpus an feinteiligen und präzisen Interpretationen des Films, insbesondere seiner Symbolik, beigetragen. Doch ich würde gerne den Fokus darauf ändern,  wie Mulholland Drive seine Atmosphäre erzeugt. Wie entstehen seine Traumlogik und seine surreale Qualität – jenseits der Frage, was Traum und was Realität ist? Können wir uns  auf den Gedanken einlassen, dass nicht alles zwangsläufig eine eindeutige Bedeutung haben muss? Dass im Film eine gewisse Verspieltheit steckt, die durch übermäßiges Erklären ins Prätentiöse kippt – in ein Denken, das den Film als reines Rätselwerk eines genialen Autors überhöht. 

 

Was wäre also, wenn wir Filme, die sich einer linearen Erzählweise entziehen, nicht nur als Rätsel betrachten würden, das es zu lösen gilt? Was, wenn wir uns stattdessen stärker darauf einlassen würden, was sie als filmische, audiovisuelle Erfahrung ausmacht? 

 

Quellen:

[1] https://www.theguardian.com/theobserver/2002/jan/20/features.review97

Michelle Seidl

David Lynch wohnte tatsächlich in einem Haus abseits der berühmten Straße Mulholland Drive. Sein gleichnamiger Film aus dem Jahr 2001 ist vor allem eine Hommage an die Stadt Los Angeles, an Hollywood als buchstäbliche Traumfabrik. So kommt das blonde girl next door Betty (Naomi Watts) nach L.A., um sich den Traum einer Schauspielkarriere zu verwirklichen, wird aber in ein düsteres, geheimnisvolles Drama verwickelt, das sich schlussendlich als Illusion entpuppt. Die narrative Fragmentierung und die abrupten Perspektivwechsel lassen Handlungsstränge unvermittelt ineinander übergehen, wodurch der Film wie eine Ansammlung loser Puzzleteile wirkt, die man mit detektivischem Eifer analysieren, sezieren und zu einem sinnhaften Gebilde zusammensetzen möchte.

 

Anlässlich von David Lynchs Tod sah ich Mulholland Drive ein drittes Mal – diesmal erstmals tatsächlich in einem Kinosaal. Dadurch wurde mir ein bislang unbeachteter Aspekt des Films bewusst, der in seiner Selbstreferenzialität begründet liegt. Stellenweise enthüllt Mulholland Drive seine eigene Künstlichkeit und lässt sich als eine Reflexion der Mechanismen des Hollywood-Kinos lesen, das unsere Wahrnehmung lenkt und uns dazu verleitet, das Gezeigte als ‘Wahrheit’ zu akzeptieren – so, als wäre die filmische Perspektive unsere eigene. Doch während ein klassischer Blockbusterfilm darauf abzielt, uns in seine Illusion hineinzuziehen, dekonstruiert Mulholland Drive diese Mechanismen und entlarvt sie als künstliches Konstrukt.

 

In einer Schlüsselszene, die mit einfachem Schuss-Gegenschuss beginnt, fragt Betty wütend: „You’re still here?“, woraufhin Rita antwortet: “I came back. I thought that’s what you wanted.” Die nahen Aufnahmen ihrer Gesichter suggerieren einen intensiven emotionalen Konflikt. Doch dann vollzieht Lynch einen plötzlichen Perspektivwechsel: Die Kamera fährt zurück und offenbart, dass Rita lediglich Zeilen aus einem Drehbuch rezitiert. Was zuvor ein Streitgespräch zu sein schien, stellt sich als Übung für ein Casting heraus. Wir sehen Schauspielerinnen, die vor der Kamera schauspielern, dass sie schauspielern – die Künstlichkeit filmischer Darstellung wird offengelegt. Es ist nicht real, sondern eine Inszenierung. Lynch führt uns gezielt in die Irre, nur um im nächsten Moment die Täuschung offenzulegen.

 

Diese metafilmische Reflexion über Illusion und Realität kulminiert in der Sequenz im Club Silencio, wenn ein Conférencier auf einer Theaterbühne eindringlich verkündet: „No hay banda! There is no band!“ Die einsetzende Musik entpuppt sich als Tonband, als aufgezeichnete Illusion. Der Magier auf der Bühne erklärt unmissverständlich, dass alles nur Tonband und Trick ist, und dennoch lassen sich Betty und Rita von der Darbietung sichtlich emotional mitreißen. Die Illusion bringt Betty zum Weinen; die Magie erliegt den inszenatorischen Mechanismen audiovisueller Illusion. Als die Sängerin auf der Bühne in Ohnmacht fällt und ihr Lied dennoch unverändert weiter tönt, bricht auch Rita zusammen. Die bislang für wahr gehaltene Realität wird als bloßes Konstrukt entlarvt, das Bewusstsein als Reaktion destabilisiert. Diese Szene markiert den Wendepunkt des Films: Die Handlung kippt in den zweiten Teil, in dem Betty und Rita nicht mehr existieren – sie waren nie real, sondern lediglich Trug- und Wunschbilder. Die Club Silencio-Sequenz verweist damit nicht nur auf die Selbsttäuschung, mit der wir unseren Träumen und Wünschen hoffnungsvoll begegnen, sondern auch auf die unausweichliche Möglichkeit schmerzhafter Desillusionierung. Gleichzeitig ist sie eine Meta-Reflexion auf die Mechanismen des Kinos selbst und dessen Wirkungsweise auf das Publikum – wir sind Zuschauer:innen eines inszenierten Geschehens, der Magier erklärt uns den Zaubertrick, dem auch wir im Kinosaal begegnen. 

 

Mulholland Drive entlarvt die Schattenseiten Hollywoods, dekonstruiert den verheißungsvollen Mythos des American Dream und verkehrt die glitzernde Scheinwelt der Traumfabrik in einen verstörenden Albtraum aus psychosexueller Begierde, Tod und Entsetzen. Zugleich ist der Film ein Plädoyer für das Kino – ein Werk, das selbstreflexiv die Illusionskraft seines Mediums feiert und das unauflösliche Wechselspiel zwischen Schein und Wahrheit auslotet, das dem Medium Film inhärent ist. Wir sind uns der künstlichen Inszenierung zwar bewusst, dennoch sind wir berührt von dem, was wir sehen, wollen es einordnen, verstehen, interpretieren. Gerade in diesem Spannungsfeld entfaltet sich das unmittelbare affektive Potential des Kinos, weshalb es sich unbedingt lohnt, Mulholland Drive bei Gelegenheit auf einer großen Leinwand zu sehen. 

Ferdinand Trübsbach

An manchen Abenden, auf Partys oder anderen Menschenansammlungen fällt es mir schwer, ich selbst zu sein. So kommt es mir zumindest vor. Wahrscheinlich verstelle ich mich einfach ein bisschen aus der Sorge heraus, bestimmten Leuten nicht zu gefallen. Meine Worte und Bewegungen folgen plötzlich einem neuen Muster. Ohne dass ich mir dessen bewusst werde, werde ich zum Schauspieler. Ich trinke mein Bier aus und muss gähnen - Zeit, nachhause zu gehen. Morgen muss ich einen Text über David Lynchs Mulholland Drive (2001) schreiben. Etwas wackelig stehe ich auf, verabschiede mich mit erzwungenem Lächeln und muss an Bettys (oder Dianes?) Worte in der ersten Hälfte des Films denken: „We’ll pretend to be someone else.“ In dieser Szene will Betty ihre mysteriöse neue Bekanntschaft Rita (oder Camille?), die sich nicht mehr an ihr bisheriges Leben erinnern kann, dazu ermutigen, unter falscher Identität Nachforschungen über ihre Vergangenheit anzustellen. Naomi Watts spielt Betty in den Szenen, in denen die beiden versuchen, Ritas Rätsel zu lösen, mit einer aufgeregten Neugierde. Sie scheint sich zu freuen, endlich jemand anders sein zu können. Mir dagegen reicht es für heute erstmal.

Als ich am Vortag zum ersten Mal seit einigen Jahren Mulholland Drive schaute, fiel mir vor allem das Spiel mit den Identitäten der beiden Protagonistinnen auf. Bettys Ankunft in Los Angeles folgt zu Beginn einem stereotypen Narrativ der jungen Frau aus der Kleinstadt, die davon träumt, ein Filmstar zu werden. Mit leuchtenden Augen und breitem Lächeln kommt sie am Flughafen an. Wir kennen diese Geschichte bereits aus anderen Filmen über den „Dreamplace“ Hollywood und oft steht die junge Frau nach anfänglicher Aufregung der harschen Realität der Filmbranche gegenüber. Wir befürchten also, dass das alles kein gutes Ende nehmen wird. Eine Szene, die diesen Eindruck verstärkt, noch bevor die Haupthandlung des Films Fahrt aufnimmt, ist der berühmte Jumpscare hinter dem Winkie’s-Restaurant. Durch Einstellungen, die die schlafende Rita zeigen, als Traumsequenz inszeniert, werden wir plötzlich und ohne Vorwarnung in eine der beängstigendsten Szenen der Filmgeschichte katapultiert. Ein Traum (?), in dem ein sichtlich nervöser Mann einem Anderen in einem Restaurant von einem Alptraum erzählt, in dem sich die beiden im gleichen Restaurant befinden und im Anschluss hinter dem Gebäude etwas Grauenvolles entdecken. So weit, so schräg. Der erste Mann wird immer nervöser, da sich sein Traum offenbar wiederholt/bewahrheitet. Sie machen sich auf den Weg hinter das Restaurant, die Kameraführung wird immer wackeliger, das Geschehen ist untermalt von einem atmosphärischen Dröhnen, der Mann schwitzt. Sie nähern sich einer Ecke. Lynch weiß, dass wir unbedingt wissen wollen, was hinter dieser Ecke ist, selbst wenn wir uns sicher sind, dass es schrecklich sein wird. Wir haben keine Ahnung, was diese drei (?) verworrenen Traumebenen mit der schlafenden Rita zu tun haben, aber wir wissen, dass ein Unglück bevorsteht. Dieses Gefühl zieht sich für mich durch den ganzen Film.

Bettys Ambitionen, zu schauspielern, jemand anders zu werden und Ritas Geheimnis zu lüften, werden sie schlussendlich in ein Unglück führen. Ritas Flucht in Bettys Wohnung und die stückweise Rekonstruktion ihres vorherigen Lebens werden wahrscheinlich böse enden. David Lynch, der seine Filme nie irgendjemandem erklären wollte, zeigt uns immer wieder, dass die Auflösung eines Rätsels gefährlich ist. Parallel zum Geschehen scheinen finstere Mächte der Filmbranche die Fäden zu ziehen, weswegen ein verlorener Regisseur namens Adam seine künstlerischen Prinzipien hinterfragen muss. Meta-Kommentar zu fiesen Hollywood-Machenschaften? Bestimmt. Reflexion über den Reiz und die Angst, sich einem geliebten Menschen vollständig zu öffnen? Vielleicht. Will ich eine genaue Antwort auf meine vielen Fragen? Ich glaube nicht?

Ich trete in die kühle Nachtluft und mache mich auf den Weg zur U-Bahn-Station. Vielleicht würde es mir in Wahrheit gar nicht gut tun, genau zu wissen, wer ich bin. Wenn ich eine Sache aus David Lynchs Filmen und Serien gelernt habe, dann dass abschließende Antworten auf solche Fragen im schlimmsten Fall tödlich enden und im annehmbarsten Fall einfach langweilig sind. Es ist kalt heute. Diesen Text über Mulholland Drive werde ich morgen wahrscheinlich auch nicht abschließen können. Ich knöpfe meine Jacke zu und zünde mir eine Zigarette an. Ich bin traurig, dass er nicht mehr da ist.

Bettys und Ritas Spurensuche endet mit Dianes Leiche und einem Besuch im Silencio, einem Illusionstheater, in dem der Gesang auch ohne Sängerin weiterläuft. Danach ist alles plötzlich anders und doch gleich. Betty wird Diane, Rita wird Camille und der Ton des Films wird ernüchternder. Wir wissen, dass Diane sterben muss. Diane selbst scheint es zu wissen. Lynch zeigt uns jetzt, warum. Gnadenlos führt er uns auf eine zweite Katastrophe zu, die gleichzeitig die erste war, während wir verzweifelt versuchen, die Puzzleteile zusammenzupressen. Wieder ist unsere einzige Gewissheit, dass etwas Schlimmes passieren wird, wie in einem Alptraum. Wir nähern uns der Ecke hinter dem Winkie’s.

Mitten auf der Alserbachstraße bleibe ich stehen und bin mir ganz kurz sicher, zu wissen, was das alles zu bedeuten hat. Sobald sich diese Ruhe einstellt, diese verlogene Sicherheit, ertönt aus dem Off die Filmmusik von Angelo Badalamenti und meine Knie beginnen sich wie von selbst im Takt hin und her zu bewegen. Die Häuserfassaden um mich herum verschwimmen, die Straßenlaternen flackern und ein breites Lächeln wandert auf mein Gesicht. Nein, ich weiß nicht wirklich, wer ich bin oder was Mulholland Drive bedeutet. Aber gerade groove ich angenehm betrunken über die Friedensbrücke immer näher auf die abschließende Ruhe zu, hin zum Happy End. Nach Hollywood, wo immer Musik in der Luft liegt und alle immer tanzen. Oh, ich freue mich schon so! Ich hoffe, dass ich niemals ankomme. Thank you, Mr. Lynch.

Viktoria Weber

Es ist Mitte Januar 2025, ich scrolle auf meinem Instagram-Feed, springe von einer Story zur nächsten und befinde mich auf einmal in einer Endlosschleife von David Lynch-Nachrufen. Darunter finden sich nicht nur designierte Filmliebhaber:innen, sondern immer wieder auch sogenannte Laien, die mit einem Häferl Kaffee in der einen und einem zuckerübergossenen Donut in der anderen Hand die Kultserie Twin Peaks genießen. Doch was macht den Hype aus?

Ein Herzstück von Lynchs Oeuvre ist der 2002 erschienene Film Mulholland Drive: Die Scheinwerfer eines einzigen Autos beleuchten die verschlungene Straße über dem Lichtermeer Los Angeles. Auf der Rückbank sitzt eine bildschöne Brünette, die einem Mordversuch nur knapp entgeht – ein todbringender Autounfall rettet ihr das Leben. Obwohl diese physisch unverletzt bleibt, verliert sie jegliche Erinnerung an ein Leben vor dem Unglück und nennt sich von da an Rita. Die mysteriöse Schönheit – ob Opfer oder Täterin bleibt erstmal unklar – schleicht sich in die Hollywood-Residenz einer Schauspiel-Diva, wo sie sich mit deren lebensfrohen, hilfsbereiten Nichte Betty anfreundet. Die naive, blonde Betty, die in Los Angeles für ihren großen Traum als Schauspielerin vorspricht und dabei auch manchem Regisseur den Mund abschleckt, hilft ihrer neuen  Freundin, ihrer  mysteriösen Vergangenheit auf den Grund zu gehen. Die Blonde und die Brünette fungieren dabei als klassische, wunderschöne Stereotype, die Lynch gezielt einsetzt. 

Hierbei handelt es sich nur um einen von zahlreichen Handlungssträngen, die durch Motive und Orte erstmal nur lose verknüpft scheinen – doch Lynch überlässt nichts dem Zufall. Da gibt es zum Beispiel noch den arroganten Jungregisseur Adam, dessen Frau ihn im eigenen Haus betrügt und kurzerhand vor die Tür setzt; und einen klassischen Cowboy, der Adams Geldprobleme lösen möchte. Dabei bleibt Lynch seinem Stil treu: mit fließenden Übergängen führt er die Zuschauer:innen durch seine surreale Filmwelt. Die Neben- und Haupthandlungen alternieren, während erst die Stimmungen eines klassischen Film Noirs, dann einer Lovestory, dann eines Mystikthrillers vermittelt werden – Lynch liebt das Spiel mit Genreverweisen und tradierten Hollywood-Phänotypen.

Wer die Werke des Regisseurs bereits kennt, wartet dann nur noch auf eine sexuell aufgeladene Szene und wird nicht enttäuscht, als Rita und Betty (oder deren Gegenstück Diane?) sich zu einer leidenschaftlichen Beziehung verführen lassen. Lynch reproduziert hier einen klassischen male gaze auf eine lesbische Liebesbeziehung – ein Produkt der Zeit, aber deswegen kein bisschen weniger problematisch. Lynchs Frauenbild bedient sich dabei klassischer Gegensätze à la Heilige oder Hure und obwohl diesen Ansichten eine fast unschuldige Faszination mit der Idee Frau mitschwingt, berauben sie die Protagonistinnen ihrer rein menschlichen Handlungsdimension. Selbstverständlich lässt sich mutmaßen, dass Lynch in seinen Werken nur die gesellschaftlichen Vorstellungen von und an Frauen reflektiert, dennoch scheinen die Szenen dafür sehr treffend in das Weltbild eines Konservativen [1] zu passen. Im Filmverlauf alternieren die klassischen Gegensätze auch auf der Handlungsebene der individuellen Protagonistinnen, wodurch die Charaktere nicht an Komplexität verlieren.

Am Ende der 152 Minuten stellt die Zuschauerin sich mehr Fragen als davor und auch der sagenumwobene, blaue Schlüssel bringt nicht die alles aufklärende Antwort. Die Idee des Kinos als Traumfabrik erlangt bei Lynch eine ganz neue Dimension, während sich der Hollywood-Wahn am Mulholland Drive Schritt für Schritt zum verführerischen Albtraum wandelt. Die Reise ins Unbewusste strotzt dabei vor Genreverweisen, altbekannten Phänotypen und Filmgeschichtsreferenzen, die wirklich alle Augen an die Leinwand fesseln.  

Quellen:

[1] Lynchs politische Einstellung schwankte stets, dennoch wird der Regisseur oftmals als konservativ beschrieben. Beispielhaft hierfür ist seine aktive Befürwortung des und Nähe zum republikanischen US-Präsidenten Ronald Reagan. Siehe hierzu: 

https://www.washingtonpost.com/opinions/2025/01/18/david-lynch-conservative/

Laura Stöckler

David Lynchs Mulholland Drive ist längst Teil des filmischen Kanons und hat sich seit Jahren einen festen Platz in der Kulturlandschaft gesichert. Besonders nach Lynchs Tod im Januar dieses Jahres erlebten seine Werke und seine Person eine regelrechte Hypervisibilität – befeuert durch Nachrufe in den sozialen Medien und den Feuilletons. In diesem Kontext habe ich nach mehreren Jahren Mulholland Drive erneut gesehen.

 

Trotz der allgemeinen Faszination für die Eigenartigkeit und Einzigartigkeit seiner Filme sind viele Diskussionen, sowohl in Gesprächen in meinem Umfeld als auch in Artikeln und Essays, von dem Wunsch nach Erklärungen, Analysen und Deutungen geprägt. Webseiten wie „mulholland-drive.net“, ein umfassendes Wiki zu diesem Film, unterstreichen diesen analytischen Ansatz. Das überrascht kaum, denn Mulholland Drive ist von einer tiefen Rätselhaftigkeit durchzogen. Dass die Haupterzählung eine Traumwelt oder Scheinrealität ist, gilt als weitverbreiteter Konsens. Resultat ist ein Detektivspiel, das die Zuschauer:innen dazu verleitet, Traum und Realität akribisch voneinander zu trennen. Diese Tendenz wurde durch Lynch selbst noch befeuert, als er mit der DVD-Veröffentlichung zehn "Clues" präsentierte, die bei der Entschlüsselung des Films helfen sollten [1].

 

Auch der Film selbst lädt zu dieser Spurensuche ein: Die skurrilen und scheinbar losen Erzählfragmente, die unerklärliche innere Logik, die psychosexuell aufgeladenen Beziehungen, wiederkehrende, aber obskure Symbolik, entfremdende schauspielerische Performances und eindringliche Motive fordern uns regelrecht heraus, den Film so zu deuten, dass sich alle Puzzleteile zu einem vollständigen Bild zusammenfügen. Es entsteht die Dominanz einer analytischen Lesart, die alles auf verborgene Bedeutungen reduziert und den Film einer Art psychoanalytischen Sezierung unterwirft. In dieser Denkweise steht das Gesehene nie für sich selbst, sondern wird immer als Symbol für etwas Tieferliegendes verstanden. Das Publikum wird zur Psychoanalytiker:in; die ‘eigentliche’ Wahrheit des Films soll entschlüsselt werden. Am Ende dieser Suche stehen die Intentionen des Regisseurs selbst.

 

Doch dieser Fokus auf kognitive Entschlüsselung überdeckt womöglich andere Möglichkeiten der Rezeption. Als ich die fünfte detaillierte Erklärung des Films lese, frage ich mich: Engt diese detektivische Betrachtungsweise unsere Wahrnehmung nicht ein? Geht durch die Fixierung auf Deutung nicht gerade das verloren, was Mulholland Drive ausmacht – seine Vieldeutigkeit, seine Weigerung, sich einer klaren Logik zu unterwerfen, seine subtile affektive Wirkung?

 

Warum also sprechen wir so selten über die formalen Aspekte des Films – abseits der Spurensuche nach Lynchs Intention? Über die Stille zwischen den Dialogen, die Pausen zwischen den Blicken, die das Geschehen in ein Vakuum tauchen? Über die Leere, die sich beim Zuschauen überträgt – einengend, verunsichernd, isolierend? Oder über die langsamen, schleichenden Kamerabewegungen, die elliptische Montage, die Farbgestaltung? Diese Techniken sind ebenso zentral für die Atmosphäre und Wirkung des Films wie seine narrative Struktur.

 

Die zahlreichen Deutungen und Analysen der letzten Jahre haben zweifellos zu einem umfassenden Korpus an feinteiligen und präzisen Interpretationen des Films, insbesondere seiner Symbolik, beigetragen. Doch ich würde gerne den Fokus darauf ändern,  wie Mulholland Drive seine Atmosphäre erzeugt. Wie entstehen seine Traumlogik und seine surreale Qualität – jenseits der Frage, was Traum und was Realität ist? Können wir uns  auf den Gedanken einlassen, dass nicht alles zwangsläufig eine eindeutige Bedeutung haben muss? Dass im Film eine gewisse Verspieltheit steckt, die durch übermäßiges Erklären ins Prätentiöse kippt – in ein Denken, das den Film als reines Rätselwerk eines genialen Autors überhöht. 

 

Was wäre also, wenn wir Filme, die sich einer linearen Erzählweise entziehen, nicht nur als Rätsel betrachten würden, das es zu lösen gilt? Was, wenn wir uns stattdessen stärker darauf einlassen würden, was sie als filmische, audiovisuelle Erfahrung ausmacht? 

 

Quellen:

[1] https://www.theguardian.com/theobserver/2002/jan/20/features.review97

Michelle Seidl

David Lynch wohnte tatsächlich in einem Haus abseits der berühmten Straße Mulholland Drive. Sein gleichnamiger Film aus dem Jahr 2001 ist vor allem eine Hommage an die Stadt Los Angeles, an Hollywood als buchstäbliche Traumfabrik. So kommt das blonde girl next door Betty (Naomi Watts) nach L.A., um sich den Traum einer Schauspielkarriere zu verwirklichen, wird aber in ein düsteres, geheimnisvolles Drama verwickelt, das sich schlussendlich als Illusion entpuppt. Die narrative Fragmentierung und die abrupten Perspektivwechsel lassen Handlungsstränge unvermittelt ineinander übergehen, wodurch der Film wie eine Ansammlung loser Puzzleteile wirkt, die man mit detektivischem Eifer analysieren, sezieren und zu einem sinnhaften Gebilde zusammensetzen möchte.

 

Anlässlich von David Lynchs Tod sah ich Mulholland Drive ein drittes Mal – diesmal erstmals tatsächlich in einem Kinosaal. Dadurch wurde mir ein bislang unbeachteter Aspekt des Films bewusst, der in seiner Selbstreferenzialität begründet liegt. Stellenweise enthüllt Mulholland Drive seine eigene Künstlichkeit und lässt sich als eine Reflexion der Mechanismen des Hollywood-Kinos lesen, das unsere Wahrnehmung lenkt und uns dazu verleitet, das Gezeigte als ‘Wahrheit’ zu akzeptieren – so, als wäre die filmische Perspektive unsere eigene. Doch während ein klassischer Blockbusterfilm darauf abzielt, uns in seine Illusion hineinzuziehen, dekonstruiert Mulholland Drive diese Mechanismen und entlarvt sie als künstliches Konstrukt.

 

In einer Schlüsselszene, die mit einfachem Schuss-Gegenschuss beginnt, fragt Betty wütend: „You’re still here?“, woraufhin Rita antwortet: “I came back. I thought that’s what you wanted.” Die nahen Aufnahmen ihrer Gesichter suggerieren einen intensiven emotionalen Konflikt. Doch dann vollzieht Lynch einen plötzlichen Perspektivwechsel: Die Kamera fährt zurück und offenbart, dass Rita lediglich Zeilen aus einem Drehbuch rezitiert. Was zuvor ein Streitgespräch zu sein schien, stellt sich als Übung für ein Casting heraus. Wir sehen Schauspielerinnen, die vor der Kamera schauspielern, dass sie schauspielern – die Künstlichkeit filmischer Darstellung wird offengelegt. Es ist nicht real, sondern eine Inszenierung. Lynch führt uns gezielt in die Irre, nur um im nächsten Moment die Täuschung offenzulegen.

 

Diese metafilmische Reflexion über Illusion und Realität kulminiert in der Sequenz im Club Silencio, wenn ein Conférencier auf einer Theaterbühne eindringlich verkündet: „No hay banda! There is no band!“ Die einsetzende Musik entpuppt sich als Tonband, als aufgezeichnete Illusion. Der Magier auf der Bühne erklärt unmissverständlich, dass alles nur Tonband und Trick ist, und dennoch lassen sich Betty und Rita von der Darbietung sichtlich emotional mitreißen. Die Illusion bringt Betty zum Weinen; die Magie erliegt den inszenatorischen Mechanismen audiovisueller Illusion. Als die Sängerin auf der Bühne in Ohnmacht fällt und ihr Lied dennoch unverändert weiter tönt, bricht auch Rita zusammen. Die bislang für wahr gehaltene Realität wird als bloßes Konstrukt entlarvt, das Bewusstsein als Reaktion destabilisiert. Diese Szene markiert den Wendepunkt des Films: Die Handlung kippt in den zweiten Teil, in dem Betty und Rita nicht mehr existieren – sie waren nie real, sondern lediglich Trug- und Wunschbilder. Die Club Silencio-Sequenz verweist damit nicht nur auf die Selbsttäuschung, mit der wir unseren Träumen und Wünschen hoffnungsvoll begegnen, sondern auch auf die unausweichliche Möglichkeit schmerzhafter Desillusionierung. Gleichzeitig ist sie eine Meta-Reflexion auf die Mechanismen des Kinos selbst und dessen Wirkungsweise auf das Publikum – wir sind Zuschauer:innen eines inszenierten Geschehens, der Magier erklärt uns den Zaubertrick, dem auch wir im Kinosaal begegnen. 

 

Mulholland Drive entlarvt die Schattenseiten Hollywoods, dekonstruiert den verheißungsvollen Mythos des American Dream und verkehrt die glitzernde Scheinwelt der Traumfabrik in einen verstörenden Albtraum aus psychosexueller Begierde, Tod und Entsetzen. Zugleich ist der Film ein Plädoyer für das Kino – ein Werk, das selbstreflexiv die Illusionskraft seines Mediums feiert und das unauflösliche Wechselspiel zwischen Schein und Wahrheit auslotet, das dem Medium Film inhärent ist. Wir sind uns der künstlichen Inszenierung zwar bewusst, dennoch sind wir berührt von dem, was wir sehen, wollen es einordnen, verstehen, interpretieren. Gerade in diesem Spannungsfeld entfaltet sich das unmittelbare affektive Potential des Kinos, weshalb es sich unbedingt lohnt, Mulholland Drive bei Gelegenheit auf einer großen Leinwand zu sehen. 

Ferdinand Trübsbach

An manchen Abenden, auf Partys oder anderen Menschenansammlungen fällt es mir schwer, ich selbst zu sein. So kommt es mir zumindest vor. Wahrscheinlich verstelle ich mich einfach ein bisschen aus der Sorge heraus, bestimmten Leuten nicht zu gefallen. Meine Worte und Bewegungen folgen plötzlich einem neuen Muster. Ohne dass ich mir dessen bewusst werde, werde ich zum Schauspieler. Ich trinke mein Bier aus und muss gähnen - Zeit, nachhause zu gehen. Morgen muss ich einen Text über David Lynchs Mulholland Drive (2001) schreiben. Etwas wackelig stehe ich auf, verabschiede mich mit erzwungenem Lächeln und muss an Bettys (oder Dianes?) Worte in der ersten Hälfte des Films denken: „We’ll pretend to be someone else.“ In dieser Szene will Betty ihre mysteriöse neue Bekanntschaft Rita (oder Camille?), die sich nicht mehr an ihr bisheriges Leben erinnern kann, dazu ermutigen, unter falscher Identität Nachforschungen über ihre Vergangenheit anzustellen. Naomi Watts spielt Betty in den Szenen, in denen die beiden versuchen, Ritas Rätsel zu lösen, mit einer aufgeregten Neugierde. Sie scheint sich zu freuen, endlich jemand anders sein zu können. Mir dagegen reicht es für heute erstmal.

Als ich am Vortag zum ersten Mal seit einigen Jahren Mulholland Drive schaute, fiel mir vor allem das Spiel mit den Identitäten der beiden Protagonistinnen auf. Bettys Ankunft in Los Angeles folgt zu Beginn einem stereotypen Narrativ der jungen Frau aus der Kleinstadt, die davon träumt, ein Filmstar zu werden. Mit leuchtenden Augen und breitem Lächeln kommt sie am Flughafen an. Wir kennen diese Geschichte bereits aus anderen Filmen über den „Dreamplace“ Hollywood und oft steht die junge Frau nach anfänglicher Aufregung der harschen Realität der Filmbranche gegenüber. Wir befürchten also, dass das alles kein gutes Ende nehmen wird. Eine Szene, die diesen Eindruck verstärkt, noch bevor die Haupthandlung des Films Fahrt aufnimmt, ist der berühmte Jumpscare hinter dem Winkie’s-Restaurant. Durch Einstellungen, die die schlafende Rita zeigen, als Traumsequenz inszeniert, werden wir plötzlich und ohne Vorwarnung in eine der beängstigendsten Szenen der Filmgeschichte katapultiert. Ein Traum (?), in dem ein sichtlich nervöser Mann einem Anderen in einem Restaurant von einem Alptraum erzählt, in dem sich die beiden im gleichen Restaurant befinden und im Anschluss hinter dem Gebäude etwas Grauenvolles entdecken. So weit, so schräg. Der erste Mann wird immer nervöser, da sich sein Traum offenbar wiederholt/bewahrheitet. Sie machen sich auf den Weg hinter das Restaurant, die Kameraführung wird immer wackeliger, das Geschehen ist untermalt von einem atmosphärischen Dröhnen, der Mann schwitzt. Sie nähern sich einer Ecke. Lynch weiß, dass wir unbedingt wissen wollen, was hinter dieser Ecke ist, selbst wenn wir uns sicher sind, dass es schrecklich sein wird. Wir haben keine Ahnung, was diese drei (?) verworrenen Traumebenen mit der schlafenden Rita zu tun haben, aber wir wissen, dass ein Unglück bevorsteht. Dieses Gefühl zieht sich für mich durch den ganzen Film.

Bettys Ambitionen, zu schauspielern, jemand anders zu werden und Ritas Geheimnis zu lüften, werden sie schlussendlich in ein Unglück führen. Ritas Flucht in Bettys Wohnung und die stückweise Rekonstruktion ihres vorherigen Lebens werden wahrscheinlich böse enden. David Lynch, der seine Filme nie irgendjemandem erklären wollte, zeigt uns immer wieder, dass die Auflösung eines Rätsels gefährlich ist. Parallel zum Geschehen scheinen finstere Mächte der Filmbranche die Fäden zu ziehen, weswegen ein verlorener Regisseur namens Adam seine künstlerischen Prinzipien hinterfragen muss. Meta-Kommentar zu fiesen Hollywood-Machenschaften? Bestimmt. Reflexion über den Reiz und die Angst, sich einem geliebten Menschen vollständig zu öffnen? Vielleicht. Will ich eine genaue Antwort auf meine vielen Fragen? Ich glaube nicht?

Ich trete in die kühle Nachtluft und mache mich auf den Weg zur U-Bahn-Station. Vielleicht würde es mir in Wahrheit gar nicht gut tun, genau zu wissen, wer ich bin. Wenn ich eine Sache aus David Lynchs Filmen und Serien gelernt habe, dann dass abschließende Antworten auf solche Fragen im schlimmsten Fall tödlich enden und im annehmbarsten Fall einfach langweilig sind. Es ist kalt heute. Diesen Text über Mulholland Drive werde ich morgen wahrscheinlich auch nicht abschließen können. Ich knöpfe meine Jacke zu und zünde mir eine Zigarette an. Ich bin traurig, dass er nicht mehr da ist.

Bettys und Ritas Spurensuche endet mit Dianes Leiche und einem Besuch im Silencio, einem Illusionstheater, in dem der Gesang auch ohne Sängerin weiterläuft. Danach ist alles plötzlich anders und doch gleich. Betty wird Diane, Rita wird Camille und der Ton des Films wird ernüchternder. Wir wissen, dass Diane sterben muss. Diane selbst scheint es zu wissen. Lynch zeigt uns jetzt, warum. Gnadenlos führt er uns auf eine zweite Katastrophe zu, die gleichzeitig die erste war, während wir verzweifelt versuchen, die Puzzleteile zusammenzupressen. Wieder ist unsere einzige Gewissheit, dass etwas Schlimmes passieren wird, wie in einem Alptraum. Wir nähern uns der Ecke hinter dem Winkie’s.

Mitten auf der Alserbachstraße bleibe ich stehen und bin mir ganz kurz sicher, zu wissen, was das alles zu bedeuten hat. Sobald sich diese Ruhe einstellt, diese verlogene Sicherheit, ertönt aus dem Off die Filmmusik von Angelo Badalamenti und meine Knie beginnen sich wie von selbst im Takt hin und her zu bewegen. Die Häuserfassaden um mich herum verschwimmen, die Straßenlaternen flackern und ein breites Lächeln wandert auf mein Gesicht. Nein, ich weiß nicht wirklich, wer ich bin oder was Mulholland Drive bedeutet. Aber gerade groove ich angenehm betrunken über die Friedensbrücke immer näher auf die abschließende Ruhe zu, hin zum Happy End. Nach Hollywood, wo immer Musik in der Luft liegt und alle immer tanzen. Oh, ich freue mich schon so! Ich hoffe, dass ich niemals ankomme. Thank you, Mr. Lynch.

David Lynch - Mullholland Drive (2001)

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