Andreas Schretthauser

Fadime Gunsam

Adrian Praschl-Bichler

Society Mag Cover

No items found.

Mathieu Wernert, Society 129, Demain c'est loin, 2020, Foto Credits : Mathieu Wernert

Andreas Schretthauser

„Wir müssen diese Entscheidung treffen. Ich werde Sie also heute Abend um große Anstrengungen bitten, weil wir uns langfristig schützen müssen. [...] Wir befinden uns im Krieg, zugegebenermaßen in einem Gesundheitskrieg: Wir kämpfen weder gegen eine Armee noch gegen eine andere Nation. [...] Wir befinden uns im Krieg. Alle Maßnahmen der Regierung und des Parlaments müssen nun auf die Bekämpfung der Epidemie ausgerichtet werden. [...] Wie ich bereits angekündigt habe, hat die Regierung strenge Regelungen getroffen, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen.“ Es ist Montag, der 16. März 2020, Staatspräsident Emmanuel Macron tritt für eine Fernsehansprache an die französische Bevölkerung im Elysée-Palast vor die Kameras.

Jeder Einzelne hat Bilder von Regierungsmitgliedern gesehen, die vor die Öffentlichkeit traten und Europa einen abrupten Lockdown ankündigten. Ein Zustand, der Wochen zuvor wohl undenkbar gewesen wäre. 

An besagtem 16. März nimmt das Werk Mathieu Wernerts mit dem ersten Datumsstempel seinen Anfang. Am 21. März findet sich ein entsprechender Instagram-Post auf seiner Instagram-Seite. Wernert setzt dabei jeden Tag einen Abdruck des Datums unter das vorherige. Anfangs noch geordnet, beginnen sich die Stempel nach einer Woche zu überlagern, werden unleserlich. Von Zeit zu Zeit postet er das Werk, welches sich täglich systematisch weiterentwickelt. Der Künstler nutzt seine Instagram-Seite so für ein digitales Tagebuch. In dieser Zeit finden sich auch immer wieder Posts mit weiteren Bildern Wernerts auf Instagram, die er in ein Kalenderbuch einklebt und teilweise mit Text begleitet. Dazu beispielhaft einige Begleitsätze: AUTOMÉDICATION/TOTAL DISTANCE/GOOD TIME (04.April), NO/WORDS (06.April), NO SPORT (08.April). 

Am 16. April erschienen dann die Datumsstempel auf dem Cover des Society Magazins #129 mit dem Titel „demain, c’est loin...“ – morgen ist weit weg. Mit einigem Abstand erscheint hierbei der Stempel des 11. Mai 2020. 

Der Blick in die Vergangenheit, der Blick in die Zukunft. Noch vor dem 11. Mai wurden die Corona-Beschränkungen in Frankreich verlängert: „Wir müssen unsere Anstrengungen also fortsetzen und uns weiterhin an die Regeln halten“, so Macron am 13. April. Die französische Bevölkerung hatte da bereits einen Monat lang äußerst strenge Ausgangsbeschränkungen hinter sich. 

Morgen ist weit weg… . Ich erinnere mich daran zurück, wie es mir zu dieser Zeit ergangen ist, und stelle fest: Die ersten Tage der Corona-Krise sind mir in meiner Erinnerung höchst präsent – Home-Office, Social-Distancing, Pressekonferenzen sehen, Ungewissheit, Veränderungen, Sorgen … . Doch dann verschleiern sich die Erinnerungen an die einzelnen Tage, Routinen entwickeln sich, der Alltag wird wieder strukturierter, die Panik der ersten Tage legt sich – die Erinnerungen überlagern sich wie die Datumsstempel.

Morgen ist weit weg. Am 19. April postet Wernert mit dem Datum 11. Mai 2020: Personne ne sait Niemand weiß es. Bis wir zu einem gewohnten gesellschaftlichen Leben zurückkehren werden, wird es wohl noch dauern. Über die ersten Tage des Lockdowns werden wir sicher noch in einigen Jahren sprechen. Am 11. Mai hätten auch in Frankreich erste schrittweise Lockerungen der Maßnahmen erfolgen können. Niemand weiß es. Morgen ist weit weg. Welche Erinnerungen sind Ihnen geblieben?

Fadime Gunsam

Die Timeline ist eine Darstellung, welche die Zeit als eine Abfolge von Ereignissen in einer unumkehrbaren Richtung darstellt. Sie entspricht der linearen Zeitvorstellung, einem Abbild der erlebten Wirklichkeit. Aber existiert Zeit überhaupt? Oder ist es eine menschliche Schöpfung, ein Konstrukt, um das Leben besser zu strukturieren? Unser alltägliches Verständnis von “Zeit” entsteht entweder aus subjektiven Eindrücken und Gewohnheiten oder aber aus externen Vorgaben. Beim Warten auf den Zug vergeht die Zeit langsamer als an einem schönen Urlaubstag. Zeit existiert aber auch als “kollektiver Ausdruck unserer Wechselwirkung mit der Umwelt.”1 Da wir in einer Welt leben, in der sich alles in Bewegung befindet, können wir uns nur zurechtfinden, indem wir in der Lage sind “unsere Bewegungen mit den für uns relevanten Veränderungen der Umwelt sowie denen unseres inneren Milieus zu koordinieren. Dasselbe muß auch [...] für jedes andere Lebewesen gelten.”2 Das bedeutet, dass jeder Mensch eine Eigenzeit besitzt, die sich wiederum aus inneren und äußeren Rhythmen zusammensetzt und sich individuell unterscheidet. Wenn nun mehrere Menschen eine Gruppe bilden, die eine gemeinsame Aufgabe haben, so entsteht automatisch ein Problem mit der Koordination der unterschiedlichen Eigenzeiten. Pohlmann und Niedersen sprechen davon, dass aus „dem Wirrwarr der vielen Eigenzeiten (die den Eigenbewegungen entsprechen), ... plötzlich ... eine neue Zeit [entsteht], ... an die sich die vielen Eigenzeiten nun dynamisch ... anpassen.“3 In diesem Kontext ist es sinnvoll zu sagen, dass eine 'neue Zeit beginnt'.

Der im Januar 2020 in China beginnende, sich weltweit ausdehnende Ausnahmezustand und die damit verbundenen Ausgangsbeschränkungen, leiten den Beginn einer neuen Zeit ein. Mit dem Lockdown gibt es plötzlich nur noch den aktuellen Tag. Again and again and again... Alles andere ist zu weit weg. Nicht nur für jeden Einzelnen, sondern im Kollektiv. Plötzlich sitzen wir alle im selben Boot. Gemeinsam einsam, sozial isoliert.

Der französische Künstler Mathieu Wernert thematisiert die Zeit  im confinement während des weltweiten Lockdowns. Sein Werk entsteht innerhalb von zwei Monaten während der Ausgangssperre in Frankreich. In insgesamt drei Posts auf Instagram kann der Entstehungsprozess seiner „Lockdown-Timeline“ mitverfolgt oder nachträglich abgerufen werden. Von der oberen Blattmitte anfangend verläuft eine vertikale, unregelmäßige Reihe von roten Datumsstempeln auf einem weißen Hintergrund. Beginnend mit dem Lockdown für Frankreich, dem 16.3.2020 (16 MARS 2020), stempelt Wernert die jeweils darauffolgenden Tage zunächst sorgfältig und knapp untereinander. Dann verdichtet er die Daten zunehmend, so dass sich im mittleren Abschnitt des Blattes die Tage nach dem 23. März 2020 gänzlich überlagern. Dies bewirkt, dass sich die zunächst als Timeline wahrgenommene vertikale Linie ab der Blattmitte aufgrund der Abstände zwischen Tag/Monat/Jahr in drei dicke, rote Balken verwandelt, die keine einzelnen Daten mehr erkennen lassen und abrupt enden. Das untere Blattdrittel lässt nurmehr Schleifspuren der roten Balken erkennen, die an die Bremsspur erinnern, die eine Vollbremsung auf einer Fahrbahn hinterlässt. Wernert schließt am unteren Blattrand mit dem 11 MAI 2020 ab, der das Ende des Lockdowns markiert.

In Wernerts graphischer Darstellung ist der Tag das Ereignis und zeigt eine Eigenzeit, die mit der verhängten Ausgangssperre in Frankreich beginnt. Durch die Auseinandersetzung mit der Zeit, lässt sich in seiner Wahrnehmung zunächst eine kontinuierliche Weiterführung der Tage erkennen. Nach einer Woche verdichtet und überlappt sich die Wahrnehmung der einzelnen Tage räumlich auf dem Blatt. Er suggeriert damit eine Verlangsamung der Zeit. Das abrupte Ende der Stempelreihe scheint einen vollkommenen Stillstand der wahrgenommenen Zeit zu vermitteln. Daraus entsteht ein zeitloses Vakuum, von einem beinahe leeren Raum auf dem Blatt dargestellt, aus dem dann eine „neue Zeit“ entspringt, die der Künstler am unteren Blattende mit dem 11 MAI 2020 markiert.

Das Werk erscheint auf dem Cover der April-Ausgabe des französischen Magazins „Society“. Mit dem Hinzufügen des Magazin-Namens „Society“ und dem Zusatz: „demain, c'est loin...“ (Morgen ist weit weg) steht die graphische Darstellung der Eigenzeit Wernerts für die kollektive Wahrnehmung des Lockdowns weltweit. Faszinierend ist, dass es dem Künstler mit seinem minimalistischen Werk gelingt, die Eigenzeiten so vieler verschiedener, über den ganzen Globus verstreuter Menschen adäquat zu schildern. Die Pandemie als globales Ereignis wirkt dabei wie ein Pendel, das alle Eigenzeiten in ein und denselben Takt bringen.

1 Pohlmann und Niedersen, S.2. Jenseits der linearen Zeit, in: Selbstorganisation. Jahrbuch für Komplexität in den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften, Band II: Der Mensch in Ordnung und Chaos, Berlin 1991. Link: 03.06.2020 - http://userpage.fu-berlin.de/~lap/zeit.pdf.

2 Ebda, S.5.

3 Ebda, S.19.

Adrian Praschl-Bichler

Morgen ist weit entfernt, dennoch gibt es bereits einen fixen Endpunkt, an dem alles vorbei zu sein scheint: Der 11. Mai! Frankreich ist frei! Oder etwa doch nicht? Wenn man französischer Bürger in einem nicht so stark betroffenen Gebiet ist, und es keine zweite große Welle an Corona-Infektionen gibt, dann erfolgen erste Lockerungen am 11. Mai, ehe in einzelnen Schritten das Land zur Normalität zurückkehrt. Ein endgültiges Ende der Corona-Krise gibt es wohl erst mit der Entwicklung eines geeigneten Impfstoffs. Wann die Krise für beendet erklärt werden kann, weiß man nicht, und die kollektive Hoffnung auf eine Befreiungsparty wird vorläufig enttäuscht werden.

Im Gegensatz zur Krise ist das Werk des französischen Künstlers Mathieu Wernert abgeschlossen, auch wenn durch die Phrase „Demain c’est loin“ (Morgen ist weit weg) auf dem Cover der französischen Zeitschrift Society vom 16. April 2020 dem Werk eine weitere Ebene der Bedeutung eingezogen wurde, die es ursprünglich als Instagram-Post nicht gehabt hat. Ob das weit entfernte Morgen sich auf die noch lange währende Krise bezog oder auf das Warten auf den 11. Mai – das ja inzwischen vorbei ist – bleibt offen. Das Cover jedenfalls zeigt Datumsstempel vom 16. März bis zum 11. Mai. Dabei gibt es nicht für jeden Tag einen Stempel und die Stempel sind nicht alle gleich gut wahrnehmbar.

Mit mehreren seiner Werke begleitete Mathieu Wernert Menschen auf Instagram durch die Zeit der europaweit fast gleichzeitig einsetzenden Ausgangsbeschränkungen. Eines dieser Werke führte er wie ein Tagebuch, gab jeden Tag einen Datumsstempel in roter Farbe auf das weiße Blatt Papier. Dreimal, am 21. März, dem 28. März und dem 6. April, postete der Künstler etwas, das als eine Art Zwischenergebnis seiner Arbeit, beziehungsweise als Information über seinen seelischen Zustand gelesen werden könnte. Am 14. April veröffentlichte Wernert auf derselben Plattform seine fertige Arbeit, nun auf dem Cover des Magazins zu sehen. Ab diesem Zeitpunkt ist sicher: Der Künstler hat nicht jeden Tag einen Stempel auf sein Werk geklatscht. Das Werk hatte vor dem 14. April fertiggestellt zu sein. Schon zuvor konnte man von Post zu Post Veränderungen an den Stempeln und Überklebungen beobachten, die Datumsstempel waren also nicht “Brief und Siegel” authentifizierter Alltagserfahrung. Die Zwischenposts können also im Nachhinein weder als echte Zwischenergebnisse der Arbeit, noch als Informationen über den seelischen Zustand gelten. Das Bild des zerknirschten Künstlers mit zerzausten Haaren und Dosenravioli im Magen, der von Tag zu Tag während der Ausgangsbeschränkungen und besonders ab dem 24.-25. März (hier beginnen sich die Stempel zu überlagern) psychisch immer labiler wird, verliert an Schärfe. Aber vielleicht habe ich mir dieses Bild nur selbst ausgemalt?

Meine erste Reaktion auf das Werk fordert, dass die persönliche Erfahrung des Künstlers mit der Entstehung des Kunstwerkes zeitlich zusammenfällt. Warum dieser Reflex? Zum einen teilt der Künstler sein Werk immer wieder und nicht erst am Schluss auf einen Schlag. Tut er dies, um uns an der Entstehung teilhaben zu lassen? Zum anderen sind die Zeitpunkte seiner Posts zeitlich mit dem jeweiligen Stempel abgestimmt. Der Künstler suggeriert dadurch eine gewisse Unmittelbarkeit. Diese wird durch die Tatsache verstärkt, dass es sich um seine persönliche Instagram-Seite handelt. Denn auf Instagram ist die Zeit stark präsent. Es gibt eine Timeline und bei jedem Post ist ersichtlich, wann dieser erstellt wurde. Das Werk wird so scheinbar zum digitalen Tagebuch. 

Nachdem ich begreife, dass der Schaffensprozess nicht mit den Daten, die der Künstler stempelt, zusammenfällt, macht sich Enttäuschung breit. Ich schließe zunächst vom enttäuschten Eindruck der Unmittelbarkeit auf die fehlende Authentizität des Künstlers. Ich habe das Gefühl, dieser habe mir seinen schlechten seelischen Zustand nur vorgegaukelt. Dabei ist doch der seelische Zustand des Künstlers nicht der einzige Indikator für die Authentizität des Werks und Künstlers. Außerdem schließt nichts aus, dass Wernerts psychisches Wohlbefinden während der Coronazeit dennoch dem im Werk angedeuteten Verlauf entsprach. Aber das Medium bestimmt die Nachricht mit: Die Vermittlung des Werkes über Instagram suggeriert eine letztlich nicht vorhandene Spontanität.

Epilog: Die vermeintlich zuerst stattfindenden Überlagerungen und das anschließende völlige Verwischen der Datumsstempel stellen einen graduellen psychischen Verfall dar, der für viele Leute in dieser schweren Zeit tatsächlich bestand. Der Datumsstempel des 11. Mai repräsentiert und markiert in seinem klaren Erscheinungsbild den Endpunkt dieser Zeit, auch wenn die Symbolik unter dem klaren Erscheinungsbild leidet. Denn er markiert ja nur das Ende der gröbsten Beschränkungen. Dass nach dem 11. Mai alles klar ist, ist bestenfalls ein Wunsch. Die im Kunstwerk suggerierte Ohnmacht und psychische Labilität des Mannes, der wie im Gefängnis die Tage bis zur Entlassung zählt, konnten anscheinend viele Menschen nachvollziehen. Sie sahen darin wohl ihre eigenen Erfahrungen authentisch verbildlicht. In Form der Postkarten, die der Künstler vertrieb, wollten die Leute die kollektiv erlebte Erfahrung konservieren und werden sie als Andenken an die Coronazeit zu Hause aufbewahren.

Andreas Schretthauser

„Wir müssen diese Entscheidung treffen. Ich werde Sie also heute Abend um große Anstrengungen bitten, weil wir uns langfristig schützen müssen. [...] Wir befinden uns im Krieg, zugegebenermaßen in einem Gesundheitskrieg: Wir kämpfen weder gegen eine Armee noch gegen eine andere Nation. [...] Wir befinden uns im Krieg. Alle Maßnahmen der Regierung und des Parlaments müssen nun auf die Bekämpfung der Epidemie ausgerichtet werden. [...] Wie ich bereits angekündigt habe, hat die Regierung strenge Regelungen getroffen, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen.“ Es ist Montag, der 16. März 2020, Staatspräsident Emmanuel Macron tritt für eine Fernsehansprache an die französische Bevölkerung im Elysée-Palast vor die Kameras.

Jeder Einzelne hat Bilder von Regierungsmitgliedern gesehen, die vor die Öffentlichkeit traten und Europa einen abrupten Lockdown ankündigten. Ein Zustand, der Wochen zuvor wohl undenkbar gewesen wäre. 

An besagtem 16. März nimmt das Werk Mathieu Wernerts mit dem ersten Datumsstempel seinen Anfang. Am 21. März findet sich ein entsprechender Instagram-Post auf seiner Instagram-Seite. Wernert setzt dabei jeden Tag einen Abdruck des Datums unter das vorherige. Anfangs noch geordnet, beginnen sich die Stempel nach einer Woche zu überlagern, werden unleserlich. Von Zeit zu Zeit postet er das Werk, welches sich täglich systematisch weiterentwickelt. Der Künstler nutzt seine Instagram-Seite so für ein digitales Tagebuch. In dieser Zeit finden sich auch immer wieder Posts mit weiteren Bildern Wernerts auf Instagram, die er in ein Kalenderbuch einklebt und teilweise mit Text begleitet. Dazu beispielhaft einige Begleitsätze: AUTOMÉDICATION/TOTAL DISTANCE/GOOD TIME (04.April), NO/WORDS (06.April), NO SPORT (08.April). 

Am 16. April erschienen dann die Datumsstempel auf dem Cover des Society Magazins #129 mit dem Titel „demain, c’est loin...“ – morgen ist weit weg. Mit einigem Abstand erscheint hierbei der Stempel des 11. Mai 2020. 

Der Blick in die Vergangenheit, der Blick in die Zukunft. Noch vor dem 11. Mai wurden die Corona-Beschränkungen in Frankreich verlängert: „Wir müssen unsere Anstrengungen also fortsetzen und uns weiterhin an die Regeln halten“, so Macron am 13. April. Die französische Bevölkerung hatte da bereits einen Monat lang äußerst strenge Ausgangsbeschränkungen hinter sich. 

Morgen ist weit weg… . Ich erinnere mich daran zurück, wie es mir zu dieser Zeit ergangen ist, und stelle fest: Die ersten Tage der Corona-Krise sind mir in meiner Erinnerung höchst präsent – Home-Office, Social-Distancing, Pressekonferenzen sehen, Ungewissheit, Veränderungen, Sorgen … . Doch dann verschleiern sich die Erinnerungen an die einzelnen Tage, Routinen entwickeln sich, der Alltag wird wieder strukturierter, die Panik der ersten Tage legt sich – die Erinnerungen überlagern sich wie die Datumsstempel.

Morgen ist weit weg. Am 19. April postet Wernert mit dem Datum 11. Mai 2020: Personne ne sait Niemand weiß es. Bis wir zu einem gewohnten gesellschaftlichen Leben zurückkehren werden, wird es wohl noch dauern. Über die ersten Tage des Lockdowns werden wir sicher noch in einigen Jahren sprechen. Am 11. Mai hätten auch in Frankreich erste schrittweise Lockerungen der Maßnahmen erfolgen können. Niemand weiß es. Morgen ist weit weg. Welche Erinnerungen sind Ihnen geblieben?

Fadime Gunsam

Die Timeline ist eine Darstellung, welche die Zeit als eine Abfolge von Ereignissen in einer unumkehrbaren Richtung darstellt. Sie entspricht der linearen Zeitvorstellung, einem Abbild der erlebten Wirklichkeit. Aber existiert Zeit überhaupt? Oder ist es eine menschliche Schöpfung, ein Konstrukt, um das Leben besser zu strukturieren? Unser alltägliches Verständnis von “Zeit” entsteht entweder aus subjektiven Eindrücken und Gewohnheiten oder aber aus externen Vorgaben. Beim Warten auf den Zug vergeht die Zeit langsamer als an einem schönen Urlaubstag. Zeit existiert aber auch als “kollektiver Ausdruck unserer Wechselwirkung mit der Umwelt.”1 Da wir in einer Welt leben, in der sich alles in Bewegung befindet, können wir uns nur zurechtfinden, indem wir in der Lage sind “unsere Bewegungen mit den für uns relevanten Veränderungen der Umwelt sowie denen unseres inneren Milieus zu koordinieren. Dasselbe muß auch [...] für jedes andere Lebewesen gelten.”2 Das bedeutet, dass jeder Mensch eine Eigenzeit besitzt, die sich wiederum aus inneren und äußeren Rhythmen zusammensetzt und sich individuell unterscheidet. Wenn nun mehrere Menschen eine Gruppe bilden, die eine gemeinsame Aufgabe haben, so entsteht automatisch ein Problem mit der Koordination der unterschiedlichen Eigenzeiten. Pohlmann und Niedersen sprechen davon, dass aus „dem Wirrwarr der vielen Eigenzeiten (die den Eigenbewegungen entsprechen), ... plötzlich ... eine neue Zeit [entsteht], ... an die sich die vielen Eigenzeiten nun dynamisch ... anpassen.“3 In diesem Kontext ist es sinnvoll zu sagen, dass eine 'neue Zeit beginnt'.

Der im Januar 2020 in China beginnende, sich weltweit ausdehnende Ausnahmezustand und die damit verbundenen Ausgangsbeschränkungen, leiten den Beginn einer neuen Zeit ein. Mit dem Lockdown gibt es plötzlich nur noch den aktuellen Tag. Again and again and again... Alles andere ist zu weit weg. Nicht nur für jeden Einzelnen, sondern im Kollektiv. Plötzlich sitzen wir alle im selben Boot. Gemeinsam einsam, sozial isoliert.

Der französische Künstler Mathieu Wernert thematisiert die Zeit  im confinement während des weltweiten Lockdowns. Sein Werk entsteht innerhalb von zwei Monaten während der Ausgangssperre in Frankreich. In insgesamt drei Posts auf Instagram kann der Entstehungsprozess seiner „Lockdown-Timeline“ mitverfolgt oder nachträglich abgerufen werden. Von der oberen Blattmitte anfangend verläuft eine vertikale, unregelmäßige Reihe von roten Datumsstempeln auf einem weißen Hintergrund. Beginnend mit dem Lockdown für Frankreich, dem 16.3.2020 (16 MARS 2020), stempelt Wernert die jeweils darauffolgenden Tage zunächst sorgfältig und knapp untereinander. Dann verdichtet er die Daten zunehmend, so dass sich im mittleren Abschnitt des Blattes die Tage nach dem 23. März 2020 gänzlich überlagern. Dies bewirkt, dass sich die zunächst als Timeline wahrgenommene vertikale Linie ab der Blattmitte aufgrund der Abstände zwischen Tag/Monat/Jahr in drei dicke, rote Balken verwandelt, die keine einzelnen Daten mehr erkennen lassen und abrupt enden. Das untere Blattdrittel lässt nurmehr Schleifspuren der roten Balken erkennen, die an die Bremsspur erinnern, die eine Vollbremsung auf einer Fahrbahn hinterlässt. Wernert schließt am unteren Blattrand mit dem 11 MAI 2020 ab, der das Ende des Lockdowns markiert.

In Wernerts graphischer Darstellung ist der Tag das Ereignis und zeigt eine Eigenzeit, die mit der verhängten Ausgangssperre in Frankreich beginnt. Durch die Auseinandersetzung mit der Zeit, lässt sich in seiner Wahrnehmung zunächst eine kontinuierliche Weiterführung der Tage erkennen. Nach einer Woche verdichtet und überlappt sich die Wahrnehmung der einzelnen Tage räumlich auf dem Blatt. Er suggeriert damit eine Verlangsamung der Zeit. Das abrupte Ende der Stempelreihe scheint einen vollkommenen Stillstand der wahrgenommenen Zeit zu vermitteln. Daraus entsteht ein zeitloses Vakuum, von einem beinahe leeren Raum auf dem Blatt dargestellt, aus dem dann eine „neue Zeit“ entspringt, die der Künstler am unteren Blattende mit dem 11 MAI 2020 markiert.

Das Werk erscheint auf dem Cover der April-Ausgabe des französischen Magazins „Society“. Mit dem Hinzufügen des Magazin-Namens „Society“ und dem Zusatz: „demain, c'est loin...“ (Morgen ist weit weg) steht die graphische Darstellung der Eigenzeit Wernerts für die kollektive Wahrnehmung des Lockdowns weltweit. Faszinierend ist, dass es dem Künstler mit seinem minimalistischen Werk gelingt, die Eigenzeiten so vieler verschiedener, über den ganzen Globus verstreuter Menschen adäquat zu schildern. Die Pandemie als globales Ereignis wirkt dabei wie ein Pendel, das alle Eigenzeiten in ein und denselben Takt bringen.

1 Pohlmann und Niedersen, S.2. Jenseits der linearen Zeit, in: Selbstorganisation. Jahrbuch für Komplexität in den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften, Band II: Der Mensch in Ordnung und Chaos, Berlin 1991. Link: 03.06.2020 - http://userpage.fu-berlin.de/~lap/zeit.pdf.

2 Ebda, S.5.

3 Ebda, S.19.

Adrian Praschl-Bichler

Morgen ist weit entfernt, dennoch gibt es bereits einen fixen Endpunkt, an dem alles vorbei zu sein scheint: Der 11. Mai! Frankreich ist frei! Oder etwa doch nicht? Wenn man französischer Bürger in einem nicht so stark betroffenen Gebiet ist, und es keine zweite große Welle an Corona-Infektionen gibt, dann erfolgen erste Lockerungen am 11. Mai, ehe in einzelnen Schritten das Land zur Normalität zurückkehrt. Ein endgültiges Ende der Corona-Krise gibt es wohl erst mit der Entwicklung eines geeigneten Impfstoffs. Wann die Krise für beendet erklärt werden kann, weiß man nicht, und die kollektive Hoffnung auf eine Befreiungsparty wird vorläufig enttäuscht werden.

Im Gegensatz zur Krise ist das Werk des französischen Künstlers Mathieu Wernert abgeschlossen, auch wenn durch die Phrase „Demain c’est loin“ (Morgen ist weit weg) auf dem Cover der französischen Zeitschrift Society vom 16. April 2020 dem Werk eine weitere Ebene der Bedeutung eingezogen wurde, die es ursprünglich als Instagram-Post nicht gehabt hat. Ob das weit entfernte Morgen sich auf die noch lange währende Krise bezog oder auf das Warten auf den 11. Mai – das ja inzwischen vorbei ist – bleibt offen. Das Cover jedenfalls zeigt Datumsstempel vom 16. März bis zum 11. Mai. Dabei gibt es nicht für jeden Tag einen Stempel und die Stempel sind nicht alle gleich gut wahrnehmbar.

Mit mehreren seiner Werke begleitete Mathieu Wernert Menschen auf Instagram durch die Zeit der europaweit fast gleichzeitig einsetzenden Ausgangsbeschränkungen. Eines dieser Werke führte er wie ein Tagebuch, gab jeden Tag einen Datumsstempel in roter Farbe auf das weiße Blatt Papier. Dreimal, am 21. März, dem 28. März und dem 6. April, postete der Künstler etwas, das als eine Art Zwischenergebnis seiner Arbeit, beziehungsweise als Information über seinen seelischen Zustand gelesen werden könnte. Am 14. April veröffentlichte Wernert auf derselben Plattform seine fertige Arbeit, nun auf dem Cover des Magazins zu sehen. Ab diesem Zeitpunkt ist sicher: Der Künstler hat nicht jeden Tag einen Stempel auf sein Werk geklatscht. Das Werk hatte vor dem 14. April fertiggestellt zu sein. Schon zuvor konnte man von Post zu Post Veränderungen an den Stempeln und Überklebungen beobachten, die Datumsstempel waren also nicht “Brief und Siegel” authentifizierter Alltagserfahrung. Die Zwischenposts können also im Nachhinein weder als echte Zwischenergebnisse der Arbeit, noch als Informationen über den seelischen Zustand gelten. Das Bild des zerknirschten Künstlers mit zerzausten Haaren und Dosenravioli im Magen, der von Tag zu Tag während der Ausgangsbeschränkungen und besonders ab dem 24.-25. März (hier beginnen sich die Stempel zu überlagern) psychisch immer labiler wird, verliert an Schärfe. Aber vielleicht habe ich mir dieses Bild nur selbst ausgemalt?

Meine erste Reaktion auf das Werk fordert, dass die persönliche Erfahrung des Künstlers mit der Entstehung des Kunstwerkes zeitlich zusammenfällt. Warum dieser Reflex? Zum einen teilt der Künstler sein Werk immer wieder und nicht erst am Schluss auf einen Schlag. Tut er dies, um uns an der Entstehung teilhaben zu lassen? Zum anderen sind die Zeitpunkte seiner Posts zeitlich mit dem jeweiligen Stempel abgestimmt. Der Künstler suggeriert dadurch eine gewisse Unmittelbarkeit. Diese wird durch die Tatsache verstärkt, dass es sich um seine persönliche Instagram-Seite handelt. Denn auf Instagram ist die Zeit stark präsent. Es gibt eine Timeline und bei jedem Post ist ersichtlich, wann dieser erstellt wurde. Das Werk wird so scheinbar zum digitalen Tagebuch. 

Nachdem ich begreife, dass der Schaffensprozess nicht mit den Daten, die der Künstler stempelt, zusammenfällt, macht sich Enttäuschung breit. Ich schließe zunächst vom enttäuschten Eindruck der Unmittelbarkeit auf die fehlende Authentizität des Künstlers. Ich habe das Gefühl, dieser habe mir seinen schlechten seelischen Zustand nur vorgegaukelt. Dabei ist doch der seelische Zustand des Künstlers nicht der einzige Indikator für die Authentizität des Werks und Künstlers. Außerdem schließt nichts aus, dass Wernerts psychisches Wohlbefinden während der Coronazeit dennoch dem im Werk angedeuteten Verlauf entsprach. Aber das Medium bestimmt die Nachricht mit: Die Vermittlung des Werkes über Instagram suggeriert eine letztlich nicht vorhandene Spontanität.

Epilog: Die vermeintlich zuerst stattfindenden Überlagerungen und das anschließende völlige Verwischen der Datumsstempel stellen einen graduellen psychischen Verfall dar, der für viele Leute in dieser schweren Zeit tatsächlich bestand. Der Datumsstempel des 11. Mai repräsentiert und markiert in seinem klaren Erscheinungsbild den Endpunkt dieser Zeit, auch wenn die Symbolik unter dem klaren Erscheinungsbild leidet. Denn er markiert ja nur das Ende der gröbsten Beschränkungen. Dass nach dem 11. Mai alles klar ist, ist bestenfalls ein Wunsch. Die im Kunstwerk suggerierte Ohnmacht und psychische Labilität des Mannes, der wie im Gefängnis die Tage bis zur Entlassung zählt, konnten anscheinend viele Menschen nachvollziehen. Sie sahen darin wohl ihre eigenen Erfahrungen authentisch verbildlicht. In Form der Postkarten, die der Künstler vertrieb, wollten die Leute die kollektiv erlebte Erfahrung konservieren und werden sie als Andenken an die Coronazeit zu Hause aufbewahren.

Society Mag Cover

Upcoming Resonanze

Öl-Proteste durch die Kunst

upcoming Resonanze

Öl-Proteste durch die Kunst

upcoming Resonanze

James T. Hong - Apologies

upcoming Resonanze

Öl-Proteste durch die Kunst

upcoming Resonanze

James T. Hong - Apologies

upcoming events

Öl-Proteste durch die Kunst

upcoming events

James T. Hong - Apologies

put some fire in your belly

put some fire in your belly

put some fire in your belly